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1    Eine Linie ist eine Folge von Punkten. Raum kann durch Linien begrenzt werden. Eine Ton-Linie ist eine Ton-Abfolge entlang einer Anzahl von Ton-Orten (Lautsprechern). Raum kann durch Ton-Linien begrenzt werden, wobei der Raum-Form eine aus der Ton-Sprache dimensionierte Erlebnisform überlagert wird. Nichtlineare Ton-Verschiebungen zwischen zwei oder mehreren Ton-Orten tasten den Raum punktförmig ab, wobei dem Raum-Maß eine aus der Ton-Sprache geformte Erlebnis-Dimension überlagert wird.
 
2    Es ist notwendig, den Begriff „Raum“ umzudenken und zu erweitern. Diese Räume haben keine gleichzeitig erlebbaren Grenzen, sie sind auch nicht fließend dynamisch im herkömmlichen Sinn. Sie entstehen und vergehen, Raum ist hier eine Folge von räumlichen Ereignissen wesenhaft ein Ereignis der Zeit. Raum wird in der Zeit entwickelt, wiederholt und verändert.
 
3    Im Mittelpunkt meiner Arbeiten steht das In-Beziehung-Setzen des ganzen Körpers zu Ton-Strukturen: die audio-körperliche Erfahrung, das Erleben und Messen von Räumen und Objekten, deren Form und deren Inhalt durch Ton-Bewegungen determiniert sind. Der Maßstab reicht von kleinen Objekten, die unmittelbar am Körper angebracht werden, bis zu großen architektonischen Räumen.
 
4    Das Ton-Hören ist lediglich ein Teil der audio-körperlichen Erfahrung. Akustische Reize und Informationen werden nicht nur mit den Ohren, sondern mit dem ganzen Körper wahr- und aufgenommen. Dies ist für das Schaffen von Raum durch Ton von zentraler Bedeutung.
 
5    Art und Maßstab der Lautsprecherverteilung, Geschwindigkeit und Richtung der Ton-Bewegungen, Ton-Lautstärke, Ton-Frequenz und Ton-Farbe sind die Bau-Elemente; sie bestimmen die Raum-Aussage. Sämtliche Untersuchungen mußten in vollem Maßstab gebaut und getestet werden, da keines der bestehenden Messungs- und Interpretationssysteme für Raum und für Ton direkt auf meine Arbeiten angewandt werden konnte. Die körperliche Reaktion auf einen horizontal schiebenden oder diagonal wegfedernden Ton kann am Entwurfspapier ebensowenig gemessen werden wie die aufwärtsziehende, abhebende Qualität eines aufsteigenden Decrescendo-Tones.
 
6    Die ersten praktischen Versuche wurden im Frühjahr 1971 gemacht. Ihnen lagen die theoretischen Überlegungen und Entwürfe zugrunde, die 1968 begonnen und in der Zeitschrift Artforum (März 1971) erstmals veröffentlicht wurden. In einer Halle in New York wurden einfache Strukturen entwickelt, an denen verschiedene räumliche Ton-Bewegungen studiert wurden: Das Abfallen einer vertikalen Ton-Linie, Ton oberhalb und unterhalb einer sich bewegenden Person kreuzend, das gerichtete Führen einer horizontalen Ton-Linie, Nähern und Entfernen, verschiedene Neigungswinkel einer geraden Ton-Linie im Raum, schleifenartige Ton-Bewegungen in horizontalen und vertikalen Rasterflächen.
 
7    Als Ton-Material wurden zunächst einfachste Töne verwendet, um eine Assoziation musikalischer Erlebnisformen zu minimalisieren: rollende Töne (Pauke, Trommel); kurze, rasche, tiefe Schläge (elektronisch erzeugt); Instrumentalaufnahmen wie Cello- und Horntöne ohne Frequenzveränderungen. Die Gerüststrukturen für diese grundsätzlichen Untersuchungen hatten einen temporären Charakter. Sie bestanden aus 4m langen Holzelementen, an denen jeweils mehrere Lautsprecher montiert waren. Die Elemente konnten kurzfristig und mühelos in verschiedenen Konfigurationen zusammengestellt werden. Maßstab und Form der Teststrukturen wurden aufgezeichnet. Die Ton-Bewegungen in diesen Strukturen wurden empirisch gemessen und bewertet und die Ergebnisse der Untersuchungen notiert.
 
8    Das Schaffen von Räumen und Objekten mit dem Vokabular der Ton-Welt ermöglicht grundsätzlich neue Aussage- und Erlebnisformen. Es sind vor allem Lautstärke, Rhythmus, Ablaufgeschwindigkeit und deren Veränderung, die die Entwicklung und Abwicklung von Raum-Form bestimmen. Als zeitliches Ereignis haben Ton-Räume, je nach Art der Ton-Bewegungen, psycho-physiologische Dimensionen wie Strecken, Ziehen, Leiten, Federn usw. Die graduelle Veränderung der Lautstärke ist ein elementarisches Mittel, die Richtung einer Ton-Bewegung zu unterstreichen. Die Richtungsaussage eines sich nähernden Tones,  bereits durch die Ortsverschiebung als lauterwerdend empfunden, wird durch ein zusätzliches Crescendo intensiviert. Gerichtete Ton-Räume sind führende, schiebende, leitende körperliche Erlebnisse, nicht lediglich Variationen von Richtungshören. Verschiedene Geschwindigkeiten der Ton-Bewegungen (schnell, langsam) geben derselben Raum-Form völlig unterschiedliche Wertungen. Accelerando und Ritardando, das Verdichten und Dehnen von Zeitereignissen, sind Raum-Determinanten (z.B. körperlich entspannende Ritardando-Räume, Beengen durch ein Accelerando). Die Raum-Form (z.B. Raum-Wiege, vertikaler Crescendo-Raum) ist vom Ton-Programm unabhängig. Den Raum-Eigenschaften werden durch ein Ton-Programm (durch dessen Frequenz, Timbre, Tempo und Rhythmus) spezifisch-expressive Qualitäten hinzugefügt. Raum-Programm und Ton-Programm können sich in verschiedener Art und Weise ergänzen.
 
Raum-Eigenschaften: Federn, Drücken, Schwingen, Heben, Senken, Leiten, Öffnen, Schließen, Schieben, Strecken, Durchdringen, Drehen, Verengen, Ziehen;  beruhigend, beschwingend, aufregend, einwiegend, anregend, lastend, erweiternd, aufsteigend, verengend, bedrückend, befreiend, einfassend, entspannend.
 
9    Meine Arbeiten sind Instrumente, um Raum mittels Ton zu schaffen und zu verändern. Sie erlauben und bedingen jeweils bestimmte Ton-Bewegungen, eine bestimmte Art, Raum zu definieren. Wie verschiedene Stücke für ein konventionelles Ton-Instrument geschrieben werden, so können verschiedene räumliche Programme und Ton-Programme für jedes TON : RAUM-Instrument geschaffen werden.
 
Bernhard Leitner, New York 1977