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Boris Groys


Die Klanginstallationen  von Bernhard Leitner

Auf den ersten Blick kann man die Kunstform der Klanginstallation am einfachsten charakterisieren als eine Kombination zwischen einer Kunstausstellung und einem Konzert. In Wirklichkeit setzt sich die Klanginstallation von beiden diesen benachbarten Kunstfomen deutlich ab. Zugleich erweist sich die Klanginstallation zunehmend als eine Kunstform, die imstande ist, die Defizite zu überwinden, welche man sowohl bei einer konventionellen Ausstellung als auch bei einem konventionellen Konzert deutlich spürt. Zu den besten Beispielen gelungener Klanginstallationen gehören die Arbeiten von Bernhard Leitner. In bewundernswerter Weise geht der Künstler schon seit Jahrzehnten seinen eigenen Weg und experimentiert konsequent und überzeugend mit der Klanginstallation als Kunstform. Um die Problematik der Arbeiten von Leitner präzise charakterisieren zu können, muss man allerdings zunächst einige Missverständnisse ausräumen, die das adäquate Verständnis der Kunstform der Installation als solcher erschweren.
 
Der Unterschied zwischen der Installation und anderen Kunstformen ist eigentlich leicht zu formulieren: Im Fall der Installation wird der Betrachter zum Besucher. Die Installation ist ein Raumfragment, ein Raumvolumen, das als ein einheitlicher Gegenstand interpretiert werden muss. Das zentrale Charakteristikum dieses Raumfragments besteht darin, dass es sich dabei um ein Stück leeren, abstrakten, rein geometrisch verstandenen Raum handelt. Gerade dieses Hauptmerkmal der Installation macht aber ihre Wahrnehmung und Interpretation so schwierig. Da der Raum der Installation ein leerer Raum ist, kann er leicht übersehen werden. Der Raum der Installation lässt sich nämlich wie jeder leere Raum mit verschiedenen Gegenständen füllen, er lässt sich betreten, er bietet die Möglichkeit, sich in ihm frei zu bewegen. So scheint der Raum der Installation „immateriell“, eigentlich nicht existent zu sein – und somit unfähig, die Rolle eines Kunstmediums zu übernehmen. Deswegen wird unsere Aufmerksamkeit fast unwillkürlich vom leeren Raum selbst auf die Objekte umgelenkt, die sich in diesem Raum befinden. Die Installation wird somit missverstanden als ein bestimmtes Arrangement von Gegenstände im Raum – und nicht als der Raum selbst.
 
Die Installation ist aber nicht bloß eine Ansammlung unterschiedlicher Gegenstände im Raum, denn sonst wäre sie ja bloß eine konventionelle, traditionelle Ausstellung, bei welcher dem Ausstellungsraum nur eine dienende Funktion in Bezug auf die ausgestellten Kunstwerke zukommt. Die Gegenstände, die im Installationsraum platziert werden, erlangen im ganz im Gegenteil erst dadurch ihren Kunststatus, dass sie sich im Raum der Installation befinden. Sie sind keine autonomen Kunstwerke, sondern Bestandteile der Installation. Aber vor allem – und das ist wahrscheinlich das Interessanteste bei der Installation – werden ihre Besucher ebenfalls zu Bestandteilen der Installation in dem Augenblick, an dem sie den Raum der Installation betreten. Damit verändert sich das Verhältnis zwischen dem Kunstwerk und seinem Betrachter grundsätzlich – und in vielerlei Hinsicht. Üblicherweise befinden sich sowohl das Kunstwerk als auch der Betrachter in einem Raum, der sich auf der symbolischen Ebene im Besitz des Betrachters befindet. Dies gilt vor allem für den Raum einer musealen Ausstellung. Das Kunstwerk, sei es ein malerisches Bild, eine Skulptur, ein Foto oder ein Film, wird nämlich in einem Ausstellungs-raum platziert, der allein dazu dient, dem Betrachter zu erlauben, dieses Kunstwerk unter optimalen Bedingungen zu sehen. Der Betrachter selbst befindet sich dabei außerhalb des Kunstwerks, und so kann man sagen, dass das Kunstwerk zwar dem Blick des Betrachters ausgesetzt ist, der Betrachter selbst aber nicht gesehen wird.
 
Im einheitlichen, holistischen Raum der Installation wird der Betrachter dagegen seinerseits zum Objekt der Betrachtung und der Selbstbetrachtung, denn er wird im Installationsraum mit ausgestellt. Jeder Installationsraum ist, wenn man will, ein paranoider Raum. Nun muss ein Raum, damit er als ein holistischer, ganzheitlicher Raum wahrgenommen werden kann, als solcher indiziert werden. Der Besucher einer Installation muss einen überzeugenden Hinweis darauf erhalten, dass er sich in einem ganzheitlichen Raum befindet, er muss zur Erfahrung dieser Ganz-heitlichkeit geführt, wenn nicht geradezu gezwungen werden. Dazu kann aber kein besseres Kunstmittel dienen als den Klang.
 
Die Verwendung der Klang im Installationsraum ist somit nichts Äußerliches in Bezug auf diesen Raum. Ganz im Gegenteil: Das Wunder des Klanges besteht vor allem darin, dass der Klang raumfüllend ist. Daher kann Klang am besten als Indikator des holistischen Raums dienen, insofern sie beim Betrachter das Gefühl erzeugen kann, selbst Teil des ganzen Raums zu werden. Und eben auf diese Weise funktionieren die Klanginstallationen Leitners. Eine einzelneKlang füllt dabei nicht unbedingt den ganzen Ausstellungsraum. Vielmehr schafft jede von ihnen einen eigenen Raum, der vom Betrachter / Besucher betreten werden muss. Dabei wird der Besucher unweigerlich der Zugehörigkeit seines eigenen Körpers zum einheitlichen Raum der Klanginstallation bewusst. Erstens ist für seinen Körper meistens eine bestimmte Raumposition oder sogar Pose vorgesehen. Und zweitens bekommt der Besucher innerhalb der Klanginstallation das Gefühl, dass der Ton, der den Installationsraum fühlt, auch durch seinen eigenen Körper hindurchströmt. Dadurch werden die Grenzen seines eigenen Körpers in Frage gestellt und relativiert – und er beginnt, sich als Teil des ganzen Raums der Installation wahrzunehmen.
 
Die visuelle Gestalt der Leitnerschen Installationen ist dabei äußerst asketisch und streng. Der Künstler situiert seine Installationen bewusst in der Tradition der minimalistischen Ästhetik der New Yorker siebziger Jahre. Man kann ohne Mühe visuelle Verweise auf Richard Serra, Carl André oder Donald Judd erkennen, die aber in der Gesamtgestalt der Klanginstallationen eine völlig neue Funktion erhalten. Sie dienen nämlich der Verschiebung der Aufmerksamkeit von der visuellen zur klanglichen Ebene der Installation. Der Ausstellungsbesucher wird visuell nicht unnötig unterhalten und deswegen vom konzentrierten Hören nicht abgelenkt. Und darin besteht wahrscheinlich vor allem das Besondere dieser Installationen: Sie sind für einen Einzelnen geschaffen. Sie sondern den individuellen Besucher aus und weisen ihm eindeutig seinen Platz zu. Damit bilden sie eine deutliche Alternative zur heute weit verbreiteten Diskoästhetik, die ein Gruppenerlebnis produzieren will. In den Klanginstallationen von Leitner wird der Besucher dagegen in den Zustand einer einsamen Meditation versetzt. Am deutlichsten ist diese Vereinsamung des Betrachters in den Installationen „Doppelwölbung / zeitversetzt“ (1999) und „Innen-Weiten / Selbst-Vermessung“ (2002) vollzogen, in denen der Betrachter sich auf einen Stuhl setzen soll, um der Musik zu lauschen. Im Raum der Installation nimmt der Hörer aber dabei eine souveräne, ja eine königliche Pose ein. Auch der Klang sug-geriert ihm das Gefühl, im Zentrum des Universums zu sein. In „Doppelwölbung / zeitversetzt“ bekommt er das Gefühl, der Musik der Sphären zu lauschen, und in „Innen-Weiten / Selbstvermessung“ dem Rauschen unterirdischer Kräfte. Auf der anderen Seite bietet ein solcher auf dem Stuhl sitzender, vom Hören innerlich absorbierter und lange Zeit verweilender Zuschauer ein reizvolles unbewegliches Bild für andere Ausstellungsbesucher. Die menschliche Figur spielt überhaupt eine große Rolle in den Installationen Leitners. Indem der Künstler dem Besucher eine bestimmte Pose und einen bestimmten Platz zuweist, macht er ihn visuell zum Teil seiner Installation – letztendlich zu einem Bild. So veranstalten die Installationen Leitners, wenn sie in einer großen Ausstellung aufgebaut sind, ein geschick-tes Spiel mit der Bewegung und dem Verweilen im Raum – eine eigenartige Choreographie, die, vom Klang selbst einmal abgesehen, den Besucher unweigerlich fasziniert und in ihren Bann zieht. Der Klang, die man hört, wenn man sich auf den dafür  vorgesehenen Platz begibt, stellt jeweils eine Sequenz von Tönen dar, die in verschiede-nen Installationen recht unterschiedlich sind. In allen Fällen wird hier aber die gleiche Balance zwischen Bewegung und Stabilität angestrebt wie auch bei der visuellen Gestaltung. Leitner benutzt aleatorische Computerprogramme, um Wieder-holungen von Tonsequenzen zu vermeiden. Auf der anderen Seite ist das Vokabular der Töne in jeder Installation relativ reduziert. Auch in dieser Hinsicht stehen die Klanginstallationen Leitners in der minimalistischen Tradition.
 
Die Erfahrung, körperlich von Klang durchdrungen zu sein, unter-
scheidet deutlich das Erlebnis des Klanghörens in einer Leitnerschen Installation vom Erlebnis des Musikhörens etwa in einem Konzertsaal. Im Konzertsaal füllt die Musik ebenfalls den ganzen Raum, aber dieser Raum ist visuell zweigeteilt. Der Zuhörer wird im Saal territorialisiert, die Musik wird auf der Bühne gemacht. Hier wird die übliche Situation einer Ausstellung oder einer theatralischen Inszenierung wiederholt: Der Zuhörer wird zum Zuschauer, der sich in der Position vor dem Kunstwerk wiederfindet. So bekommt der Zuhörer im Konzertsaal das Gefühl, „vor der Musik“ zu sitzen – obwohl die Musik eigentlich überall im Raum klingt. Dieses Gefühl macht es dem Zuhörer unmöglich, seinen eigenen Körper als Teil des Musikraums, des Tonraums zu begreifen. Zusätzlich kommt dazu die eindeutige Zeitbegrenzung des Konzerts.
 
Der zeitliche Rahmen des Konzerts ist in der Regel besucherfreundlich gestaltet – das Ende des Konzerts ist auch das Ende der Musik. Wenn man vom Anfang bis zum Ende des Konzerts ausgehalten hat, weiß man, dass man alles konsumiert hat, was zu konsumieren möglich und nötig war. Die abschließende Zufriedenheit, dieses vertraute Gefühl, alles restlos gehört und gesehen zu haben, bleibt dem Besucher von Leitners Installationen hingegen versagt: Der Klang hat hier bereits angefangen, bevor der Besucher seinen Platz eingenommen hat – und läuft weiter, nachdem er diesen Platz verlassen hat. Die Anwesenheit oder Abwesenheit des Besuchers macht auf den Klang selbst keinen besonderen Eindruck – sie erklingt auch jenseits der Dauer seiner Aufmerksamkeit. So verlässt der Besucher die Ausstellung mit dem Gefühl, die souver-äne Position des Hörens nur kurz erfahren, aber nicht in Besitz genommen zu haben.
 
Seinerzeit hat Michael Fried die Kunstform der Installation beschuldigt, theatralisch zu sein. Es handelt sich hier vielleicht in der Tat um eine Art Theater – allerdings um ein solches Theater, bei dem sich der Besucher nicht in einem Saal, sondern auf einer Bühne befindet. Die übliche Theatralizität des Theaters verschwindet damit. Wenn man sich auf der Bühne befindet, wird diese Bühne für einen nämlich unübersichtlich, eigentlich schlicht unsichtbar. Die Installation ist eine Kunstform, die wesentlich die Unsichtbarkeit mit ausstellt, denn ihr Besucher wird durch das Kunstwerk gefangen genommen. Eine gewisse Isolierung des eigenen Raums, die jede Installation veranstaltet, bedeutet aber keine Abwendung von der Welt, sondern eine De-Lokalisierung, eine De-Territorialisierung des Besuchers, die dazu dient, die Perspektive auf das Ganze der Welt zu öffnen. Es handelt sich um die Suche nach einer a-topischen, de-lokaliserten Lage, die sich in die übliche Topologie der Welt nicht einfügt und ger ade deswegen die Welt im Ganzen zu imaginieren und zu denken gestattet.
 
Man denkt oft, dass die Funktion des modernen Künstlers darin besteht, Grenzen zu überschreiten, zu überwinden, zu unterwandern. Diese Vorstellung ist in dem Sinne berechtigt, in dem der Künstler a-topisch agiert – was ihn ganz natürlich dazu bringt, bestehenden Zuschreibungen, Klassifizierungen, Einordnungen, Platzierungen und Grenzziehungen entgehen zu wollen. Allerdings führt der Wunsch, Grenzen zu überschreiten, nicht zur Etablierung der Souveränität des Künstlers, denn dieser Wunsch selbst ist Effekt dieser Grenzen. Darüber hinaus verschwinden diese Grenzen nicht, wenn man sie überschreitet, vielmehr bestätigt man diese Grenzen zusätzlich durch den Akt ihrer Überschreitung – durch das Glücksgefühl, das man dabei empfindet, aber auch durch die gesellschaftliche Provokation, die man damit erzeugt. Schon Bataille hat bemerkt, dass man die Tabus eigentlich braucht, um das Begehren nach ihrer Überschreitung empfinden zu können. Nicht zufällig hört man heutzutage immer wieder die Klage, dass alle Grenzen ver-schwunden sind – und dass man dementsprechend keine Kunst mehr machen kann, die im modernen Sinne genuin, das heißt tabubrechend wäre.
 
Nun besteht die Kunst aber eher umgekehrt darin, Grenzen zu ziehen – und zwar neue Grenzen zu ziehen. Eben eine solche neue, eigene Grenzziehung macht den Künstler souverän. Man zieht eine Grenze, wenn man einem Bild einen Rahmen gibt, man zieht aber auch dann eine Grenze, wenn man seine Kunst gegen den herr-schenden Publikumsgeschmack macht und das Publikum in Befür-worter und Gegner seiner Kunst spaltet. Leitner zieht die Grenze zwischen den Zonen, in denen bestimmte Töne gehört werden, und Räumen, die sich außerhalb dieser Zonen befinden. Es sind fühlbare, hörbare, aber auch sichtbare Grenzen, deren Überschreitung für den Besucher zum Abenteuer wird. Aber zugleich – und durch die gleiche Bewegung – zieht Leitner neue Grenzen zwischen ver-schiedenen Möglichkeiten, Klang im Raum zu erfahren. Damit konfiguriert er nicht nur den realen, sondern vor allem den imaginären, virtuellen Raum unserer möglichen ästhetischen Erfahrung neu.