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Eugen Blume im Gespräch mit Bernhard Leitner

KLANG ALS BAU-MATERIAL


Zur Austellung TONRAUMSKULPTUR im Hamburger Bahnhof, Berlin, 2008

Eugen Blume:

 


Mit dieser Ausstellung wollen wir in die späten sechziger und frühen siebziger Jahre zurückgehen und den Beginn Ihrer Arbeit mit dem Klang untersuchen. Meine erste Frage lautet — aus dem einfachen Grunde, weil mich das Thema in der Kunstgeschichte grundsätzlich interessiert —: Wo ist der Augenblick der Grenzüberschreitung, und warum findet er eigentlich statt? Was bringt jemanden wie Sie, der aus der Architektur kommt, dazu, über eine architektonische Möglichkeit ausgerechnet von Klang im Raum nachzudenken? Wie kam es in Ihrer Biografie zu dem Gedanken oder zu dem Wunsch, in diese Richtung zu gehen?



 

Bernhard Leitner: 


 

Es ist immer schwierig nachzuvollziehen, wie eine Idee entstanden ist. Ich möchte zunächst die Bereiche kurz erwähnen, mit welchen ich mich intensiv auseinandergesetzt hatte, was sich angereichert und gespeichert hatte im Gehirn, sodass es an einem bestimmten Punkt zu diesem Funken kam, den man auch Idee nennen kann — und das war eigenartigerweise auf dem Flug von Europa nach Amerika, also in einem Moment der Loslösung von einem bestimmten historisch-alltäglichen Umfeld. Diese mir unbewusste Loslösung oder auch Befreiung wurde und war für das Weitertragen und Weiterentwickeln dieser Idee in den folgenden Jahren im experimentell lebendigen, aber als Umfeld auch anonymen New York wesentlich.
Zur »Idee«: Ich absolvierte ein Architekturstudium, damit schärft man den Blick. Man schärft das Auge, besonders in der vielfältigen Auseinandersetzung mit Raum. Sicher war auch eine gewisse Klangprägung entscheidend. Ich habe viele Konzerte klassischer Musik besucht als junger Student. Aber während meiner Studienzeit ab den späten fünfziger Jahren hat mich mehr und mehr interessiert, was in Wien an Neuer Musik aufgeführt wurde. Das war das neue Denken in der Musik mit seinem Sich-Öffnen zum Raum: Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono, Mauricio Kagel. Wien war zusammen mit Paris der Ort, wo man diesen Aufbruch am besten erleben konnte, abgesehen von den Internationalen Ferienkursen in Darmstadt. Das hat mich fasziniert. Auch die Grafik zu komplex musiktheoretischen Abhandlungen über Akkorddrehungen im Raum, zum Beispiel, fand ich anregend. Ich habe sie allerdings mit einem architektonischen Auge gelesen und nicht mit einem musikalischen. Dazu kam ein Interesse für Tanz, für die Bewegung vom Körper im Raum. So wurde wohl Denk- und Erfahrungsmaterial angereichert, abgespeichert. Ich habe mich durchaus aus Neigung immer auf verschiedene Bereiche eingelassen und versucht, mit den Denkweisen und Terminologien eines künstlerischen Gebietes Wertungen zu machen, womit ich Wertungen auf einem anderen Gebiet zu überprüfen suchte. Sozusagen ein Schärfen des kritischen Blicks oder des kritischen Denkens durch Vergleiche. Im besagten Moment, aber sicherlich auch aufgrund anderer Strömungen in Körper und Geist, kam es zum funkenartigen Zusammendenken, zur Idee mit dem manifestartigen Inhalt: Ja, warum nicht den Klang als Baumaterial verwenden? 



 

Blume: 


 

Sie haben verschiedene Komponisten genannt. Dazu gehören John Cage, Morton Feldman und das ganze Umfeld der sogenannten Neuen Musik. Diese Komponisten haben versucht, Klänge in die Musik hineinzubringen, die bis dahin nicht gebräuchlich waren. Ich denke an den Wassergong von Cage, den er schon in den dreißiger Jahren »erfunden« hat. In der Moderne ist es bei verschiedenen Komponisten nichts Außergewöhnliches, dass sie neues Klangmaterial in die Musik einfügen. Was ich bei Ihnen sehe, ist noch etwas ganz anderes: Ihnen geht es nicht um neues Klangmaterial, sondern darum, den Klang selbst im Raum als ein gestaltbares Medium zu entwickeln. Dieser Gedanke — ich finde ihn hoch aufregend — war zu der Zeit, als Sie ihn gefasst haben, praktisch gar nicht realisierbar.



 

Leitner:

 


Er war überhaupt nicht zu realisieren. Ich wollte mit dem Medium Klang architektonisch-skulptural arbeiten, Raum gestalten. 
Um auf Cage zurückzukommen: Er war räumlich nicht so wichtig, aber extrem wichtig dadurch, dass er den Begriff der Musik »zertrümmert« hat, indem er ihn aufgemacht hat. Das war besonders in Wien wichtig, wo Klang immer identisch ist mit Musik. Durch Cage war Klang nicht länger das Reservat der Musiker. Cage hat das Hören neu definiert. Der Komponist Edgard Varèse andererseits hat den Klang selbst neu gedacht: Er hat den Klang in seiner Vorstellung zu einem Raumelement gemacht. Er spricht schon früh von son spatial, einer Vorstellung, die er im Pavillon Philips 1958 in Brüssel auch beeindruckend realisiert hat. 



 

Blume: 


 

Was Sie gerade angesprochen haben, die große Verführbarkeit durch Musik, diese magische Dimension der Musik — gerade Wien ist für mich ein Beispiel dafür: Mahler, Wagner usw. Nun gibt es etwa bei Jean Gebser die Vorstellung, dass das Ohr das Sinnesorgan der magischen Kulturen sei, weil es in seinem labyrinthischen Aufbau dem Bewusstseinsgrad dieser Gesellschaften entspricht, die eben noch nicht »durchsehen«, sondern hören. Wir stellen über das Ohr noch heute eine magische Beziehung zur Musik her, während das Auge etwas durchsieht, das heißt die Erkenntnis stärkt. — Bei den Räumen, die Sie gebaut haben, hat mich fasziniert, dass man den Klang durchschreitet und ihn als eine körperliche Erfahrung wahrnimmt, also nicht nur mit dem Ohr hört. Das überschreitet die Möglichkeiten der Musik, in der es besonders auf die zeitliche Abfolge ankommt, im Klangraum hingegen ist die zeitliche Abfolge noch mal gekoppelt mit einer Figur im Raum, die über den Klang gebildet wird. Da wird für mich in einer — sehr positiv gesagt —. modernen Weise diese Magie gebrochen, die die Musik natürlicherweise verströmt, dieses berauschend Lähmende …



 

Leitner:

 


… was auch viele Menschen suchen in der Musik. Ob Magie oder Magieersatz, das wollen wir dahingestellt sein lassen. Der Ton, das Ohr —. oder sagen wir lieber: das Hören erreicht andere Tiefen, andere Bewusstseinszustände, die wir nicht mehr aufrufen können. Durch eine akustische Anregung aber werden sie vielleicht erreicht. Das Tonmaterial, das ich zunächst verwendet habe, war bewusst sehr einfach. Einerseits, weil ich nicht in dem von Ihnen erwähnten Sinn musikalisch denke. Vor allem aber wollte ich nicht ablenken vom Hören des Raumes. Wenn ich einen Ton entlang einer Reihe von Lautsprechern als Raumgestalt wandern lasse, dann kann das Material »Klang« keine Melodie sein — in meiner Arbeit. Musik im Raum ist etwas anderes, als einen Raum durch Ton zu gestalten. Ich habe lange und bewusst immer von »Ton« gesprochen, um sprachlich deutlich zu machen, dass im Deutschen »Klang« sehr nahe an der Musik und »Ton« wesentlich offener ist. Im Englischen kennt man dieses Problem nicht: »Sound« ist ein offener Begriff. Im Laufe meiner Arbeit über die letzten Jahrzehnte ist mir natürlich klar geworden, welch reichhaltige Aussage dieses »Baumaterial« in sich selbst und raumbezogen mittragen kann.

 



Blume:

 


Ihre Arbeit, die Sie kürzlich in der Berliner Parochialkirche aufgeführt haben, hat mich natürlich besonders in diesem Kirchenraum an die älteste und wohl stärkste Verbindung, die Architektur und Klang eingegangen sind, erinnert. Das ist ein Thema, was Sie, wie ich weiß, interessiert und fasziniert: die frühe Verwendung des Klanges, und ich sage bewusst Klang und nicht Musik, innerhalb der kirchlichen Liturgie. Da gibt es etwas Ähnliches, ein in frühen Chorälen mit Stimmen erzeugter Klang, der tatsächlich etwas wie eine Vorform sein könnte von dem, was Sie tun: ein modellierter Klang. Der Klang bezog sich auf die Architektur oder vielleicht sogar umgekehrt — der von den gebrochenen Decken etwa der gotischen Kathedralen gespiegelt oder zurückgeworfene Klang war architektonisch geplant. (Ich weiß gar nicht, ob das schon befriedigend untersucht worden ist.) Der Klang also, der sich vom Stimmlichen, vom Musikalischen löst und dann im Raum eigenständig seine Wege sucht — aber sehr bewusst eingesetzt, nicht etwa zufällig.

 



Leitner: 


 

Wenn man Bücher aus dem 17. und 18. Jahrhundert liest, die sich mit Akustik und Architektur beschäftigen — in den letzten 150 Jahren findet man so etwas nicht —, dann ist man erstaunt, wie viel an Wissen diesbezüglich vorhanden war, wie viel auch bewusst eingesetzt wurde. Da ist sehr viel verloren gegangen. 1628, anlässlich der Weihe des Domneubaus in Salzburg, wurden die Musiker im gesamten Dom verteilt: Trompeten und Posaunen beim Eingang und ganz vorne, Pauken links und rechts im hinteren Mittelschiff, Chöre beidseitig im Mittelschiff und in der Vierung, dazwischen beidseitig zwei Streichorchester — das heißt, der ganze Raum wurde bespielt! Wir kennen Giovanni Gabrieli etwa und die Vielstimmigkeit beziehungsweise die Vielchörigkeit seiner Musik in San Marco in Venedig. Aber wie mit der Verteilung von Instrumenten im Raum ganz spezifische Hörräume geschaffen wurden, im Kirchenraum, das muss man in alten Dokumenten nachlesen. Kirchen wurden mit diesem Wissen und Wollen gebaut. Besonders faszinierend finde ich diesbezüglich die Frauenkirche in Dresden und das »Dresdner Amen«. Die Frauenkirche hat eine Doppelkuppel: eine innere Kuppel mit einer horizontalen, begehbaren Decke, in deren Mitte sich die große, kreisförmige Öffnung befindet. Darüber wölbt sich die äußere Steinkuppel. Gesang in diesem hohen Zwischenraum ist von unten nicht einsichtig und wird akustisch so geortet, als käme er von einer überirdischen Welt. So wurde das berühmte »Dresdner Amen« gebaut. Irgendwo oben, akustisch enträumlicht, schwebt es, was Richard Wagner, ortskundig und hellhörig wie er war, dann auch im Parsifal verarbeitet hat. 



 

Blume: 


 

Lassen sie uns Ihre Anfangszeit in New York betrachten, wo Sie etwas gedacht haben, was es technisch gar nicht gab. Es war nicht möglich, das zu realisieren, was Sie sich in Konzeptzeichnungen erdacht hatten. Interessant ist: Wie kommt man aus dem Gedachten, aus der Idee zur Praxis? Wie kommt man zu einem Versuchsaufbau, der technisch funktioniert?

 



Leitner: 


 

Was mich, auch im Rückblick, besonders interessiert, ist: Was ist eine Idee, was trägt sie an Energie in sich? Eine Idee ist ja nicht nur etwas, das man umsetzt, wie man heute Kreativität oberflächlich verstehen will. Eine Idee ist offensichtlich angereichert mit nichtbewussten Möglichkeiten. Diese innere Energie der Idee hat mich über die vielen Jahre immer weiter und weiter getragen. Es ist, als hätte man etwas vorweggenommen, was klarer geworden ist, mir aber damals nicht klar war — und doch habe ich es damals schon gedacht. Das sind für mich Fragen zu den über die Zeit vernetzten Zusammenhängen des Schöpferischen: Wann entsteht etwas, das noch nicht da ist, sich aber eigentlich schon entwickelt? 
Ich habe verschiedene Schritte gesetzt. Zunächst habe ich theoretische Tex-te formuliert, die ich auch publiziert habe — ohne je eine Untersuchung gemacht zu haben. Das war ein Klären durch Schreiben. Dann habe ich ein großes Loft in New York als Labor gemietet, um mit den akustischen Raumuntersuchungen in vollem Maßstab beginnen zu können: Wie hört man das, was ich aufgezeichnet, was ich mir schriftlich ausformuliert hatte? Wie verbindet sich Zeit mit Raum? Diese Bereiche wurden lange getrennt behandelt: Zeit war dem Vokabular der Klangwelt zugeordnet, Raum jenem der Architekturwelt. Diese beiden zu verbinden, daraus entwickelte sich eine Art neuer Kunstsprache, mit der man zu Aussagen kommt, welche anders nicht gezeigt und nicht gehört werden können. 
Durch diese Untersuchungen bin ich auf grundsätzliche Fragen des Hörens gekommen. Und auf Eigenarten, die, wie mir scheint, in unserer visuell dominierten Kultur verloren gegangen sind. Eine der Erkenntnisse war, dass man, da wir mit unserem gesamten Körper dem Schalldruck ausgesetzt sind, Hören nicht mit dem Sinnesorgan Ohr gleichsetzen sollte. Dies ist für mich ein sehr verkürztes Verstehen unseres akustischen Eingebundenseins in einen Raum. 
Ich habe Tonräume geschaffen — für ein bewusstes Hören. Unterbewusst sind wir aber immer akustisch in Räume eingebunden. Und zwar nicht nur mit den Ohren, sondern mit dem ganzen Körper. Ich spüre mit meinem ganzen Körper, mit meiner Haut, ob ich in einem Raum gut sprechen kann oder nicht. Das ist ein akustisches Unterbewusstsein, das jeder hat. 



 

Blume: 


 

Joseph Beuys hat den inzwischen berühmten Satz gesagt: »Ich denke sowieso mit dem Knie.« Den könnte man abwandeln auf das Hören.

 



Leitner:

 


Ich habe das oft so formuliert: Ich höre mit dem Knie besser als mit der Wade. Und zwar deshalb, weil der Schalldruck auf dem Knie direkt ansetzt, während er auf der Wade durch die Muskeln abgefedert wird. Eine Person, die viele Muskeln oder Fettpolster hat, hat ein anderes akustisches Bewusstsein und Unterbewusstsein als eine ganz dürre Person, bei der Schallwellen direkt auf das Skelett mit seinen Röhren und Platten und auch auf die Organe auftreffen. Es wurde klar, dass man mit der Schädeldecke hört, dass die Fußsohlen akustisch hoch sensibel sind, dass Klanggrenzen von Tonräumen nicht nur in jeder Richtung um einen herum wandern können, sondern auch durch den Körper hindurch. Das hat mich weggebracht von den ersten, noch sehr architektonisch-bildlich, zeichnerisch konzipierten Räumen. Dabei ist vieles aufgebrochen: Wenn man von »akustischen Räumen« spricht, muss man sich freimachen von diversen Begriffen, Vorstellungen und Kategorisierungen, mit denen wir aufgewachsen und vertraut sind.



 

Blume: 


 

Wenn man akustische Räume denkt, denkt man sehr traditionell: Man denkt an gebaute Räume, in denen etwas Akustisches stattfindet. Was man bei Ihnen erleben kann, ist ein Raum, der immateriell ist: der aus Klang besteht, der keine Wände hat, die man anfassen kann. Man empfindet diesen Raum, er ist sehr genau begrenzt, man kann ihn aber gar nicht abmessen. Oder besser: Man könnte ihn wahrscheinlich messen, aber wir haben in dem Augenblick nur die Möglichkeit des Empfindens des Raumes, nicht der Präzision des Raumes. Das hat schon für uns, die wir nur dem unmittelbar Messbaren vertrauen, eine etwas unheimliche Dimension. 



 

Leitner:

 


Das Akustische ist mit dem Höhlenartigen, oder, wie Sie gesagt haben, mit dem Labyrinthischen verknüpft. Ein Tonraum ist das Hier und Jetzt, vor allem immer ein Innenraum, selbst wenn sich dessen Grenzen weit nach außen dehnen.

 



Blume: 


 

In Ihren Klangräumen und Klangverläufen, auch in den Skulpturen, die Sie gebaut haben, die man vom Material her als Skulptur im traditionellen Sinne begreifen kann, wie etwa im Klangstein, kommt für mich noch etwas anderes, eine völlig neue Erfahrung herein: dass sich Sehen und Hören mit einander verbinden. Den Klang, der durch den Stein geht, muss man sehen, um ihn hören zu können.



 

Leitner:

 


Das ist schön formuliert. Ich habe selbst gestaunt, wie diese Arbeit entstanden ist. Ich glaube, dass wir über den Zusammenhang unserer Sinne sehr wenig wissen. Es gibt diese klassischen Kategorisierungen der verschiedenen Sinnesorgane, die vielleicht ein leichteres Verstehen und ein Sich-Darüber-Verständigen ermöglichen. Für mein ästhetisches Wissen und Arbeiten ist es selbstverständlich, dass Auge und Ohr miteinander verbunden sind. Wir hören mit den Augen, und wir sehen mit den Ohren. Das ist nicht nur poetisch gemeint. Es gibt diese Stelle in Shakespeares König Lear, wo Lear zu Gloster sagt: »Schau mit dem Ohr.« In der Tat: Das Auge führt und lenkt das Ohr, wie wir beim Hören das Auge führen. 
Was mir auch wichtig erscheint und was oft in diesem Zusammenspiel der Sinne übersehen wird: wie haptisch Akustik ist. Akustik ist oft fast zum Greifen. Ich habe in den letzten Jahren Arbeiten gemacht mit gebündelten Klängen, also mit Klangstrahlen, die aus einem Parabolspiegel auf eine Wand geworfen werden. Auf der Wand erscheint der Klang, dort wo kein Lautsprecher ist. (Ich trenne Lautsprecher und Klangerscheinung.) Bei einer Komposition von drei Klangprojektionen auf eine Wand entsteht eine Art gestisch-akustischer Malerei. Vor einigen Jahren habe ich diese Installation bei den Musiktagen in Donaueschingen gezeigt. Man konnte hören, wie sich die Klänge auf der Wand bewegten, man konnte sie mit den Augen verfolgen. Nicht wenige Besucher versuchten, den Klang zu ertasten, ihn auch noch mit der Hand zu fassen. Es war faszinierend zu sehen, wie in haptischer Weise die Hörer angezogen wurden, als sie den Klang gesehen haben.

 



Blume: 


 

Die Idee, den Klang in der Hand zu halten, finde ich großartig. Es gab in den alten Hochkulturen (ich habe das von einem Freund erfahren, ich selbst weiß nicht viel darüber), im Alten Ägypten zum Beispiel, Heilverfahren, die nur über Klänge funktionierten. Dieser Klang — wir wissen nicht, wie er gestaltet war — ordnete etwas, indem er durch den Körper hindurchging. Man ging davon aus, dass jede Krankheit eine Unordnung der Seele ist. Und dieser Klang nun stellte die Ordnung wieder her. Bei Ihnen gibt es Arbeiten, in denen der Klang durch den menschlichen Körper hindurchgeht, dort irgendetwas anrichtet, was wir nicht wissen. Das Klangereignis bleibt nicht ohne Folgen. Da ist etwas in uns, strömt etwas durch uns hindurch, alle Organe nehmen es auf, es passiert etwas mit uns.



 

Leitner:

 

In meiner Ton-Liege pendelt oder fließt der Klang von den Fußsohlen durch den Körper hinauf bis in den Kopfbereich, durch den Kopf hinaus, dann tritt er wieder durch Kopf ein und fließt wieder in den unteren Bereich der Beine zurück. Er berührt sämtliche Organe. Was passiert dabei? Wir wissen in der bildenden Kunst auch nicht genau, was große Farbflächen bewirken. Aber das Klanghören im Körper selbst scheint mir deshalb besonders interessant, weil es so direkt auf das Ich-Verstehen hinführen kann, auf das Verstehen des Selbst. In den achtziger Jahren wurden an der Bonner Universitätsklinik medizinische Untersuchungen mit der Ton-Liege durchgeführt. Es war ein medizinisch-wissenschaftliches Forschungsprojekt, das aus einer künstlerischen Forschungsarbeit entstand. Nicht umgekehrt, was meist der Fall ist. Patienten, besonders jene im präoperativen Zustand, trennen nicht selten Kopf, Seele und Körper, was zu Angst und Verspannungen führt. Nach ca. 20 Minuten auf der Ton-Liege (mit einem langsam fließenden Tonbewegungsablauf im Körper) konnten viele sich selbst zusammenfinden, eine Art Ganzheitsdenken akzeptieren. Das verändert positiv die Voraussetzungen für eine Operation, sagen Mediziner, wie es auch für den Heilprozess von großer Bedeutung ist. Auch debile Kinder wurden auf der Ton-Liege getestet. Diese Kinder haben einen Zugang zu ihrem Selbst, den wir nicht verstehen. Sie wollten lange auf der Ton-Liege verweilen, weil sie offensichtlich zu einem Selbst gefunden hatten durch Klangbewegung im Körper, nicht über ihren Kopf. 
Auch bei meinen Tuba-Architekturen oder in der Arbeit Pulsierende Stille ist dieses Eindringen von Klang in den Körper, dieses Hören im »Erfüllt-Sein« mit Klang das Wesentliche. Akustische Räume, die sich von außen kommend auf uns zu bewegen und in uns zum Klangraum werden. Man könnte etwas provozierend sagen: Nicht cogito ergo sum — Ich denke, also bin ich —, sondern: Ich klinge, also bin ich.

 



Blume: 


 

Wir haben seit der Antike dieses Wort: per-sonare, das heißt hindurchtönen. Etwas tönt durch uns hindurch. Das bezieht sich nicht nur auf den Klang, die Sprache oder Musik, sondern hat eine metaphysische Bedeutung: Sowohl das Hindurchtönen durch uns, das eher Passive, das von außen her durch uns hindurchtönt, als auch das, was durch uns selbst hindurchtönt, ein Klang, der durch uns spricht, den man durchaus mit unserem Bewusstsein in Verbindung bringen kann. Jede Art von Kunst ist in dieser Hinsicht eine modellhafte Situation für etwas, das man von da aus sehr viel größer denken kann. Sehen Sie Ihre Klangarbeiten, die Sie Ende der sechziger Jahre im Raum erfahrbar gemacht haben, zunächst für sich selbst und Ihre Frau …



 

Leitner:

 


… und Freunde …

 

Blume:

 


… sehen Sie diese Arbeiten als etwas Modellhaftes, als etwas, das für die große Frage steht: Was tönt durch uns hindurch, was sind wir eigentlich in dieser Welt? In dieser Welt heute, in der der Materialismus fast grenzenlos geworden ist, wird dieses Wunder, das durch uns etwas hindurchtönt, kaum noch gesehen beziehungsweise als unsinnig verworfen. Wir platten uns ab sozusagen. Auch in der Musik. Wenn ich an die vielen jungen Leute denke, die sich abschotten mit ihren Ohrstöpseln, primitive rhythmische, »magische« Musik in sich hineindröhnen lassen und sich damit auch mit Tönen aus der großartigen Möglichkeit des, sagen wir einmal, kosmischen Durchtönens herausnehmen. Sie haben auch einen klanglichen Horror Vacui, sie haben nicht nur im Sehen einen verstellten Horizont, sondern auch einen zugedröhnten Raum, in dem nichts mehr zu hören ist. Dagegen muss man etwas tun. Würden Sie sagen, dass das auch eine Intention Ihrer Kunst ist? 



 

Leitner:


 

Nach meinem Verständnis sollte jede ästhetische Arbeit diese Vorstellung in sich tragen. Selbstverständlich sind das nicht lediglich Wahrnehmungsuntersuchungen, die ich durchgeführt habe. Aus den erstaunlichen Entdeckungen, was auch für die jüngsten Arbeiten, die Kopfräume zutrifft, könnte man weitere wissenschaftliche Untersuchungen ableiten. Aber meine Arbeit zielt über die Wahrnehmungsstudien hinaus. Die Sensibilisierung ist dabei ein notwendiger Zwischenschritt zu dem ästhetischen Anspruch, den ich an meine Arbeit stelle. Meine Klang-Raum-Arbeit zielt auf das Wesen von Klang und so auf dessen Universum, in das wir eingebettet sind. Welche Erkenntnis kann durch ästhetische Arbeiten in diesem Medium gewonnen werden? Welcher zwischenmenschliche Dialog wird angeregt? Mit welcher aus uns selbst erfahrenen, gehörten Stimme beziehungsweise Sprache?
Wir benutzen beispielsweise viele Worte, die direkt von »Stimme« abstammen, auf deren ursprünglichen Klang-Sinn wir nicht achten. Stimmung. Verstimmt. Verstummt. Bestimmen. Stimmig. Es stimmt. Unbestimmt. Jemanden umstimmen. Feinabstimmung. Fine tuning ist wichtig im Produktionsprozess, im Management, zu wirtschaftlicher Optimierung. Mich interessieren »stimmige« Räume, die mehr als nur richtige Proportionen haben.
Der Frage nach dem Zusammenhang von Hören und Aufmerksamkeit kommt heute eine besondere Bedeutung zu. Bei einigen Installationen habe ich Wassergeräusche als eine Art Hörfilter unterlegt. Wasser hat die einzigartige Qualität, immer anders und immer gleich zu sein. Immer anregend für das Hörgehirn, immer beruhigend in seiner vermeintlichen Monotonie. Man wird sinnlich gefangen wie in den großen Mosaiks der islamischen Kunst: Sie sehen wie ein erkennbares, erfassbares Muster aus, bleiben aber undurchschaubar anregend aufgrund ihrer vielschichtigen Geometrie. 
Also womit findet man Gehör, um das Gehör überhaupt zu erwecken, um das Hören zu erwecken, dieses, wie Sie sagen, Durch-Uns-Hindurchtönen. Ich sehe meine Arbeit auch in dem Sinn, dass der mit akustischem Müll mehr und mehr zugeschüttete Mensch dieses einzigartige Sinnesorgan — und ich rede vom Körper-Hören, nicht nur vom Ohr — nicht nur wiederentdeckt, sondern auch wieder stimmig zu benutzen versteht. Das fängt ja bei der eigenen Sprache an, bei der eigenen Frequenz. Jeder Mensch ist ein Instrument, wie er auch (Klang-)

Empfänger ist.

 



Blume: 


 

Bevor man Musik komponieren konnte, nahm man an, dass die Engel sowohl ein optisches Phänomen — ein Lichtphänomen — als auch ein Klangphänomen sind. Die Musik ist über die Engel in das Bewusstsein hineinbefördert worden. Die ersten Kompositionen sind nicht geschrieben, sie sind aus dem Außenraum aufgenommen. Wenn wir diese mythischen Bilder übersetzen, wurde aus dem Universum heraus der Klang in uns hineingegeben. Von daher kommt er. Diese Dimension des Klangs, der heute mechanisiert und primitiviert ist und seine großartige Dimension verloren hat, gilt es wieder zu verstehen. Heute wird man zwar in der eigentlichen Musik technisch immer brillanter, man vergisst aber, dass die Ambivalenz, das Unwägbare, das mitunter sogar eine Abweichung von der Brillanz bedeuten kann, plötzlich einen Klang erzeugt, der bis dahin ungehört war. Und dieser Klang, dieser Zauber verschwindet immer weiter. In Ihrem Bemühen, in Ihren Arbeiten sehe ich — das haben Sie auch gerade selbst gesagt —, dass Sie genau da wieder anknüpfen wollen. 



 

Leitner:


 

Engel sind ursprünglich Botschafter, sie bringen Botschaften aus dem All. Das ist auch das Rätselhafte an diesen Wesen. Sie sind von da und von dort. Gedacht als Vermittler (von Nachrichten) stellen sie die Verbindung her zwischen unserer Weltwirklichkeit und der Welt, dem All des Nichtirdischen. Dabei ist es in der Tat interessant, wie oft (in unserer Kultur) Engel mit Musikinstrumenten dargestellt wurden. Sie musizieren, sie singen, Engelschöre wurden geradezu zum Inbegriff des Überirdischen. Und in diesem Zusammenhang es ist wiederum bemerkenswert, dass Engel vor allem mit Posaunen dargestellt werden. Posaunen, die etwas verkünden oder ankündigen. Der Posaunenton als Signal für Aufmerksamkeit oder als Ankündigung des Jüngsten Gerichts. Die Apokalypse wird eingetönt. 
Ich habe die Posaune bei der Arbeit in der Parochialkirche eingesetzt. Der kurz und kräftig angeblasene Ton steigt vom Boden vertikal durch den Raum nach oben, wo er im Gebälk zu einer großen akustischen Kuppel anschwillt. Die im Krieg zerstörte Kuppel wurde für kurze Zeit durch diese Tonkuppel ersetzt. Wie in den barocken Kuppelfresken, soll der Klang das Innere weiten, überwinden, die Kuppel selbst entgrenzen und das Innen in ein wie auch immer gedachtes Außen weiterströmen lassen.

 



Blume:

 


Wie ist das eigentlich: Den Klang in das All schicken — geht das, pflanzt sich der Klang im All fort?



 

Leitner: 


 

Wir empfangen Botschaften aus dem All. Nicht nur Lichtbotschaften. Was teilen uns akustische Wellen aus dem All mit, außer Vermessungen von Zeit und Raum? 
Zurück aus dem All: Der Klang ist wohl das reichhaltigste und wohl auch das am meisten bereichernde Aussagemedium, das wir kennen. Aber viele Klangräume, innen wie außen, das Selbsthören, das Klingen in der und durch die Person, wie Sie es beschrieben haben, sind heute weitgehend verloren in einer Zivilisation, die sich durch die Ratio, den Materialismus und die von der Technik so enorm angetriebene Geschwindigkeit wie Oberflächlichkeit auszeichnet.

 



Blume:

 


Das Sprechen selber ist auch ein Klangvorgang. Im ersten Satz des Johannes-Evangeliums, »Im Anfang war das Wort«, wird das Wort mit dem Logos verbunden, mit dem Höchsten, mit Gott …

 



Leitner:


 

… und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.



 

Blume: 


 

Und das Wort kann nur in die Welt eintreten durch den Klang. Zunächst war es der Klang, es war nicht die Schrift, nicht das Stumme, nicht das geschwiegene Wort, sondern das geklungene Wort, das Wort, das in die Welt hineinklingt.

 



Leitner: 


 

Deswegen, wie schon erwähnt, denke ich, dass der Klang Dimensionen erreicht in der Tiefe (einer einzelnen Person, aber nicht nur einer einzelnen Person), wo verborgene oder versenkte Schätze liegen. Und einen Teil dieser Schätze wieder zu heben, ist Teil meiner Arbeit.